Gastbeitrag: Das Gehirn – Zentrale unserer Leistungsfähigkeit II

Der letzte Beitrag wurde mit der Frage abgeschlossen, welche Lösung in der folgenden Situation die richtige ist:

Fiktive Spielsituation: Balleroberung im Zentrum von „rot“ nach Spielaufbau von „weiß“.

  1. Option: Er entscheidet sich dazu, in den freien Raum zu dribbeln
  2. Option: Er entscheidet sich dazu, den starteten Flügelspieler anzuspielen
  3. Option: Er entscheidet sich dazu, einen tiefen Pass auf den Stürmer zwischen die IV`s zu spielen

Welche ist die richtige Lösung?

Richtig! Die, die zum Tor führt. Und dafür gibt es nicht DIE eine Lösung.

Der Spieler trifft seine Entscheidung vor allem basierend auf Erfahrungen, die er bei ähnlichen Situationen in der Vergangenheit gemacht hat. War der Ausgang positiv, so wird er bevorzugt diese Lösung wieder suchen. Bei negativem Ausgang wird eine neue Strategie entwickelt.

Betrachten wir dazu nun einen negativen und einen positiven Ausgang für Option 2:

Ausgang positiv: Stürmer läuft alleine aufs Tor zu  -> positive Bewertung der Lösung

Ausgang negativ: Gegnerischer IV ist stark im Stellungsspiel und fängt den Pass ab

  •  Vielleicht wäre andribbeln um einen IV binden oder der Pass zum Außenspieler die bessere Option gewesen?

Wann handelt mein Spieler bewusst, wann unbewusst – und was ist besser?

Trifft ein Spieler viele Entscheidungen unbewusst, also INTUITIV richtig, benötigt er für seine Entscheidungsfindung deutlich weniger Zeit, da die Reizverarbeitung im Gehirn kürzer ist. In diesem Zusammenhang spricht man auch gerne von HANDLUNGSSCHNELLEREN SPIELERN. Mit der Komplexität der Spielsituation steigt allerdings auch die Schwierigkeit, unbewusst richtig zu entscheiden. Erfahrenere Spieler haben auch in zunehmend komplexeren Spielsituationen eine bereits AUTOMATISIERTE ERFOLGREICHE HANDLUNGSSTRATEGIE.

Trifft der Spieler in unserem Beispiel die Entscheidung also unbewusst oder bewusst?

Richtig! Das kommt natürlich auf den individuellen Spieler an. Ist unser Spieler ein unerfahrener Jugendspieler, so benötigt er mehr Zeit (wir erinnern uns: mehr Fixationen, weniger Informationen pro Fixation, längere bewusste Entscheidungsfindung) für seinen Handlungsprozess.

Wir müssen unseren Spieler also dazu bringen, dass er die Situation RICHTIG WAHRNIMMT,  in dem er möglichst mit seinem ERSTEN BLICK die spielentscheidenden Szenen „scannt“ und die Ereignisse um ihn herum peripher wahrnimmt. Er sollte auch in zunehmend komplexeren Situationen möglichst automatisiert ohne lange Denkprozesse eine ENTSCHEIDUNG mit ERFOLGREICHEM AUSGANG treffen und diese motorisch auch noch PERFEKT UMSETZEN.

Aber wie schaffen wir das?

Aufhören, den Spielern Handlungen vorzuschreiben

Unter Taktik wird im Fußball oft eine Vorgabe des Trainers an die Spieler verstanden, wie sie sich zu verhalten haben. Wenn wir über TAKTISCHES WISSEN sprechen, dann ist dies auch durchaus richtig. Hierzu zählt z.B. das EXPLIZITE VERMITTELN von Spielsystemen, den Nutzen bei bestimmten Handlungen („Wenn-Dann-Strategien“) und das Verhalten bei Standardsituationen.

Je komplexer und offener aber die Spielsituation ist, desto wichtiger wird das IMPLIZITE LERNEN für unsere Spieler. Nur durch dieses unbewusste Verarbeiten der Informationen können AUTOMATISMEN entstehen, die es den Spielern ermöglichen, unbewusst und dadurch sehr SCHNELL zu handeln. Eine Studie von Berry & Broadbent (1984) zeigte sogar, dass sich explizites Wissen auf die Performanz oft negativ auswirkt.

Fehler sind essenziell

Wie wir nun wissen, MÜSSEN vor allem Jugendspieler FEHLER machen. Denn nur dadurch können sie differenzierte Handlungspläne in verschiedenen Situationen entwickeln und haben die Möglichkeit, aus einer REIHE VON ALTERNATIVEN die Richtige auszuwählen (in Abbildung 3 graphisch veranschaulicht). Hierfür müssen wir Trainer die Spieler durch geeignete Trainingsinhalte immer wieder vor neue Herausforderungen stellen. Besonders wichtig dabei ist der Umgang von uns Trainern mit den Spielern. Wir müssen Ihnen klar machen, dass es kein Problem ist, wenn etwas mal nicht funktioniert.

Abb. 3.: Kopplung von Situation und Handlung: Handlungsauswahl aus Alternativen (nach Roth).

Muster aufbrechen und Spieler dadurch variabel machen

Dazu gehen wir zurück zu unserem Beispiel: Unser Spieler entscheidet sich INTUITIV für Option 1 und dribbelt an, weil er schnell ist und dadurch Situationen oft erfolgreich löst. Er verliert aber zunehmend den Blick für den freien Spieler in der Tiefe.

Wenn das Dribbling seine Stärke ist, dann dürfen wir Trainer ihm dieser auf keinen Fall berauben. Unsere Aufgabe ist es, ihm zu helfen, diese Stärke richtig einzusetzen. Dazu müssen wir ihm vermitteln, auf was ER achten muss, um zu erkennen, ob nicht doch eine andere Option die Erfolgswahrscheinlichere ist.

Die Spieler dazu bringen, ihr Gehirn selbst einzuschalten

Im Fußball gibt es, wie überall, selten DIE eine Lösung. Wichtig bei der Auswahl einer Lösung ist, dass der Spieler einen Plan dahinter sieht, den er sich SELBSTSTÄNDIG erarbeitet. Das schaffen wir durch geeignete Spielformen, bei denen die Spieler immer wieder vor neue Aufgaben gestellt werden. Lediglich die Frage nach einer missglückten Handlung „was eine mögliche bessere Lösung gewesen wäre“, hilft ihm, sich selbst zu reflektieren.

Grund des Scheiterns richtig bewerten

Ein Spieler hat eine überragende Idee, er scheitert aber an der motorischen Umsetzung. Kritisieren wir unseren Spieler nun dafür? Nein, ganz im Gegenteil! „Sehr guter Gedanke!“ heißt unser Feedback und es muss an den technischen Fertigkeiten des Spielers gearbeitet werden. Denn wenn er seine spielintelligenten Gedanken dann auch noch motorisch erfolgreich umsetzen kann, haben wir als Trainer vieles richtig gemacht.

Tobias Bierschneider (24) wohnhaft in Leipzig. Aktueller Absolvent im Studienmastergang „Diagnostik und Intervention im Leistungssport“. Er ist Co-Trainer bei der U11 des RB Leipzig. Zuvor hat er 5 Jahre in München gelebt, wo er seinen Bachelor an der TU in „Sportwissenschaften“ abgeschlossen hat. In der Saison 2017/18 war er als Co-Trainer bei der U14 der SpVgg Unterhaching tätig. Seine ersten Erfahrungen in einem NLZ sammelte er 2016 im Rahmen eines Praktikums beim FC Ingolstadt.

Quellen

  • De Groot, A. (1969). Perception and memory in chess; an experimental study of the heuristics of the professional eye. Mimeograph; Psychologisch Laboratorium Universität van Amsterdam, Seminarium September.
  • Gralla, V. (2007). Peripheres Sehen im Sport. Möglichkeiten und Grenzen dargestellt am Beispiel der synchronoptischen Wahrnehmung. Bochum (zugleich Dissertation Ruhr-Universität Bochum Fakultät für Sportwissenschaft)
  • Helsen, W. F., Pauwels, J. M.Visual search in solving tactical game problems. In: Daugs, R., Mech-Ling, H., Blischke, K., Oliver, N. (Hrsg.): Sportmotorisches Lernen und Techniktraining. Band 2. Inter- nationales Symposium „Motorik und Bewegungsforschung“ 1989 in Saarbrücken. Köln 1991, 199-202
  • Hohmann, A., Lames, M., Letzelter, M. (2014). Einführung in die Trainingswissenschaft (6.Auflage). Wiebelsheim: Limpert
  • Rösler, F. (2011). Psychophysiologie der Kognition. Einführung in die kognitive Neurowissenschaft.   Heidelberg: Springer-Verlag
  • Taylor, St.(1965). Eye Movements in Reading: Facts and Fallacies. American Educational Research Assoriation, 2 (4), 187-202.
  • Williams, A. M., Davids, K. (1998). Visual search strategy, selective attention and expertise in soccer. Research Quarterly for Exercise and Sport 69 2, 111-128

          Autor: Tammo Neubauer